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Interview mit Sigmar Gabriel

„Wir scheinen derzeit gar keine Weltordnung mehr zu haben“ - Interview mit Ex-Außenminister Sigmar Gabriel, Key-Note-Speaker des 11. IHK-Außenwirtschaftstages NRW am 23.9.2021

Herr Gabriel, Sie sind Vorsitzender der Atlantik-Brücke. Somit liegt die erste Frage auf der Hand: Können wir durch die neue US-Regierung eine Verbesserung der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen erwarten?

Dessen bin ich mir gewiss. Das heißt nicht, dass unser Verhältnis spannungsfrei wird. Das war es ja auch früher nicht. Aber die neue US-Regierung unter Joe Biden will im Gegensatz zu Donald Trump Konflikte unter Alliierten nicht mehr über Sanktionen angehen. Das können Sie gerade beim Verzicht auf weitergehende Sanktionen gegen die Erdgaspipeline North Stream II sehen. Biden ist die Partnerschaft zu Deutschland und Europa wichtiger als der Streit um dieses Projekt. Und das obwohl er dafür zuhause auch aus seiner eigenen Partei heftig kritisiert wird.

Und da ist der Handelskonflikt zwischen China und den USA. Steuern wir auf eine bipolare Weltordnung zu?

Schlimmer scheint mir derzeit zu sein, dass wir gar keine Weltordnung mehr zu haben scheinen. Nicht G 20 oder G 7 ist die richtige Beschreibung, sondern wohl eher G Null. Die USA haben nicht mehr die wirtschaftliche und finanzielle Kraft weltumspannend die liberal order aufrecht zu erhalten, die sich nach dem II. Weltkrieg als „pax americana“ durchgesetzt hatte und von der gerade wir Deutschen so sehr profitiert haben. Niemand kann diese Rolle ersetzen, auch keine „pax sinica“. Deshalb sollten wir uns auf eine Reihe von Jahren vorbereiten, in der es „ruppiger“ zugeht in der Welt und wir zurück sind in einer Phase harter Interessenpolitik.

Welche Rolle sollte nach Ihrer Meinung Europa übernehmen?

Wie sich die Welt neu ordnet, wissen wir heute noch nicht. Aber eines ist klar: Europa wird dabei nur eine Rolle spielen, wenn es einiger wird, als es heute ist. Und wir brauchen eine Allianz der Demokratien: USA, Südkorea, Australien, Japan, Neuseeland oder Indien z.B.

Europa gilt als reich aber schwach. Unser wichtigstes Kennzeichen ist Uneinigkeit. Das muss sich ändern. Vor allem aber müssen wir unsere wirtschaftliche Stärke weiter ausbauen. Technologie, Innovation, die Weiterentwicklung des Binnenmarktes und eine Regulierungspolitik, sowohl den Mittelstand fördert als auch große europäische Champions zulässt. Und so falsch wir den BREXIT finden: wir sollten alles tun, um so eng wie möglich mit den Briten zusammen zu arbeiten. Denn die sind zwar nicht mehr in der EU, aber immer noch Europäer, eine Atommacht und ein wirtschaftliches Powerhaus mit jahrhunderterlanger internationaler Erfahrung.

Wie kann sich unsere heimische Wirtschaft in diesem Spannungsfeld positionieren?

Die deutsche und auch die europäische Wirtschaft teilt das Schicksal der Politik: Ganz gewiss gibt es keine Äquidistanz zu den USA und China, denn wir und die USA sind Demokratien und China eine Diktatur. Wirtschaftlich aber sind wir Partner beider. Und die deutsche Wirtschaft kann überhaupt nicht anders, als auch die Marktchancen Chinas zu nutzen.

Die deutsche und europäische Politik muss allerdings dafür sorgen, dass China sich endlich auch an die gemeinsamen Spielregeln hält. Ganz gewiss ist es auch klug, wenn die deutsche Wirtschaft zusammen mit der Politik sich in Süd-Ost-Asien breiter aufstellt und diversifiziert. Auch das hilft, um nicht zu abhängig von China zu werden. Das Investitionsschutzabkommen ist deshalb mehr in unserem Interesse als im Interesse Chinas. China ist also so eine Art „Frienemy“: Politischer „Feind“ und wirtschaftlicher „Freund“.

Wir sitzen also zwischen zwei Stühlen und dieser Platz ist bekannter Maßen unbequem. Es bleibt uns aber gar keine andere Möglichkeit, als nach Gebieten der Zusammenarbeit zu suchen und zugleich klar zu machen, was uns trennt. Auch die USA werden auf Dauer nicht den Konflikt mit China suchen. Man kann ein 1,4 Milliarden Volks wie China nicht von der Weltwirtschaft „entkoppeln“ und sozusagen unter Hausarrest stellen. Henry Kissinger, der große amerikanische Außenpolitiker, hat gerade in einem Interview gesagt: „Wer mit China nur auf Konfronationskurs geht, endet wie nach dem I. Weltkrieg, nach dem es nur Verlierer gegeben hat.“ Ein harter Vergleich, sicher. Aber die Konflikte in der chinesischen See und um Taiwan zeigen, dass es Konfliktmanagement geht. Ähnlich wie im Kalten Krieg hier in Europa.

Die Corona-Pandemie hat die Wirtschaft International kräftig aufgemischt. Wohin bewegt sich die Weltwirtschaft? Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer der Krise?

Ökonomen vergleichen die wirtschaftlichen Prognosen ja gern mit Buchstaben aus dem Alphabet. Das „V“ steht z.B. für schnellen Abstieg und genauso schnellen Wiederaufstieg. Das „L“ für einen längeren Verbleib auf niedrigem Niveau nach einer Krise. Ich glaube, dass der Buchstabe „K“ hier gut passt: Die Volkswirtschaften, die vor der Krise stark waren, kommen auch schnell zu alter Stärke zurück. Die Länder, die vor der Pandemie bereits schwach entwickelt waren, werden nach der Pandemie noch schwächer. Das werden wir in Europa so sehen aber auch weltweit. Für uns in Europa wird das viel Stress bedeuten, denn das macht ja die Differenz in der Währungsunion zwischen dem reichen Norden und dem ärmeren Süden noch größer. Wenn wir „den Laden zusammen halten wollen“ – und das sollten wir – dann wird der jetzt beschlossene European Recovery Fund mit Transferleistungen von Nord nach Süd nicht das letzte Förderprogramm sein.

Die Pandemie hat deutlich die Fragilität internationaler Lieferketten vor Augen geführt. Vor welchen Herausforderungen steht die heimische Wirtschaft?

Viele fordern jetzt die Verkürzung der Lieferketten, die Rückverlagerung von Teilen der Wertschöpfungskette und vom Aufbau von größeren Lagerkapazitäten. Ich kann mir das für bestimmte Güter vorstellen, aber als generelle Strategie ist das gerade für Deutschland ungeheuer gefährlich: Unser Wohlstand stammt aus dem Export. Wir sind die Industrialisierer der Welt. Vor allem sind wir die Gewinner der internationalen Arbeitsteilung der Globalisierung. Etwas holzschnittartig gilt: Rohstoffe zu möglichst niedrigen Preisen aus aller Welt, lohnkostenintensive Produktion im Ausland, High End Produktion zu Hause. Wenn wir diese internationale Arbeitsteilung verringern, werden das andere auch tun. Das wirkt natürlich praktisch genauso wie der klassische Protektionismus. Exportnationen wie Deutschland werden dabei die Verlierer sein. Vor allem aber verlieren die ärmsten Länder der Erde, denn nur die internationale Arbeitsteilung hat dort überhaupt Arbeit und Einkommen ermöglicht. Ich bin also kein großer Freund davon, den Notfall zur Strategie zu erklären.

Lieferketten geraten auch von anderer Seite unter Druck – Stichwort „Lieferkettengesetz“. Welche Chancen und Risiken erkennen Sie für die Wirtschaft im deutschen bzw. europäischen Ansatz?

Ich verstehe schon, dass wohlhabende Länder darauf schauen wollen, ob ihr Wohlstand, ihre Waren und Dienstleitungen nicht vielleicht mit Blut, Kinder- und Zwangsarbeit oder Umweltzerstörung „bezahlt“ werden. Die Frage ist: wie weit kann man einzelne Unternehmen tatsächlich dazu verpflichten, ihre Lieferanten auf diese Themen hin zu überprüfen? Wir neigen bei solchen Gesetzen ja dazu, einen gewaltigen bürokratischen Aufwand zu erzeugen, um am Ende Bescheinigungen als Nachweise in die Akten zu heften, die in Wirklichkeit niemand mehr auf ihren Realitätsgehalt überprüfen kann. Diese Balance zu halten und übrigens nicht zu vergessen, dass es Länder gibt, in denen Kinderarbeit noch genauso zum Familienerwerb gehört, wie das in Deutschland vor der Industriealisierung auch der Fall war. Wir Deutschen fordern gelegentlich, dass andere Länder die Entwicklungssprünge, für die wir 200 Jahre gebraucht haben, in wenigen Jahren schaffen.

Die Umfragen der IHK/AHK-Organisation der letzten Jahre verdeutlichen die stetige Zunahme von Protektionismus. Die Pandemie hat diesen Trend weiter beschleunigt. Haben Sie ein Rezept für eine Trendumkehr?

Ich wäre ja schon froh, wenn ein Land wie Deutschland das vor vier Jahren in Europa verabschiedete CETA-Handelsabkommen mit Kanada endlich im Bundestag zu ratifizieren. Nicht mal das haben wir geschafft. Ich muss manchmal lachen, wenn ich so die großen europapolitischen Visionen der Parteien höre. Die wollen immer gleich das ganz große „europäische Golf“ spielen und gleich eine europäische Armee gründen. Dabei schaffen sie es nicht mal beim Mini-Golf die Bälle einzulochen. Es ist ein Elend mit ansehen zu müssen, wie gerade Deutschland ein Freihandelsabkommen mit einem Land blockiert, das europäischer ist als mancher europäische Mitgliedsstaat.

Aber natürlich sollte die EU sollte versuchen, so viele Handelsabkommen wie möglich zu schließen, solange die WTO nicht so reformiert ist, dass die dortigen Regeln ausreichen würden. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass z.B. die USA in den nächsten Jahren kein neues Freihandelsabkommen schließen wird. Die Demokraten sind traditionell protektionistischer als die Republikaner und nach einer Wirtschaftskrise gilt dort ohnehin: American Jobs first. Egal, wer regiert.

Herr Gabriel, Sie sind Hauptredner auf unserem 11. IHK-Außenwirtschaftstag NRW am 23. September 2021. Ihre Ausführungen werden schon mit Spannung erwartet. Können Sie der NRW-Wirtschaft bereits vorab etwas mit auf den Weg geben?

Das Lied von Fleetwood Mac „Don’t Stop“. Darin heißt es: „Just think what tomorrow will do.”

Mehr Informationen rund um die Veranstaltungen finden Sie unter www.ihk-aussenwirtschaftstag-nrw.de und im Artikel über den Außenwirtschaftstag.

Veronika Lühl

Verfasst von:
Veronika Lühl

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